Klassische Texte neu interpretiert (Fortsetzung)
von Dieter Hoffmann
1. Die Bewegungsantriebe
"Die acht Grundaktionen des Antriebs stellen eine Ordnung von Schwerkraft-, Zeit- und Raumkombinationen dar...", die auf zwei Grundeinstellungen aufbaut. (Laban, Rudolf v.: Die Kunst der Bewegung, Noetzel Verlag 1988, S. 77) Es ist die innere Einstellung des „Ankämpfens“ oder „Widerstrebens“ zum einen und des „Erspürens“ oder „Auskostens“ zum anderen.**
Die Grundaktion, die in allen drei Bewegungsfaktoren der Einstellung des „Ankämpfens“ entspricht, ist das „Stoßen“. Es ist fest, plötzlich und direkt. Die Grundaktion, die in allen drei Bewegungsfaktoren der Einstellung des „Erspürens“ entspricht, ist das „Schweben“. Es ist zart, allmählich und flexibel.
Jede dieser Antriebsaktionen bildet ein Zentrum für drei weitere eng mit ihnen verwandten Antrieben. „Tupfen“, „Drücken“ und „Peitschen“ sind eng mit „Stoßen“ verbunden; "Gleiten“, „Flattern“ und „Wringen“ dagegen eng mit „Schweben“.
Auf diese Weise werden acht Antriebe gebildet, die in ihrem Ausdruck zart bis fest (Gewicht), flexibel bis direkt (Raum) und allmählich bis plötzlich (Zeit) sein können. Unter dem Einfluss der Schwerkraft kann der „Widerstand“ einer Bewegung als „leicht oder „schwer“ empfunden werden. Im Verhältnis zum Raum kann die "Richtung" einer Bewegung als „biegsam“ oder „fadenförmig“ empfunden werden. Und eingebunden in die Zeit kann die „Geschwindigkeit“ einer Bewegung als „lang“ oder „kurz“ empfunden werden.
Der Bewegungsfaktor „Fluss“ sollte nicht mit der bloßen Empfindung verwechselt werden. Als einwärts und auswärts strömender Antrieb bildet er vielmehr ihre Voraussetzung. Der Faktor Fluss beschreibt die Kontrolle einer Bewegung zwischen dem gebundenen Fluss als der Bereitschaft, das normale Strömen anzuhalten und der Bewegungsempfindung „Pausieren“, sowie dem freien Fluss als der Bereitschaft, sich dem Strömen zu überlassen und der Bewegungsempfindung „Flüssig“.
Bewegungsantrieb und (innere) Haltung gehören zusammen wie Stuktur und Funktion oder Wort und Sinn. Laban bezeichnet (innere) Haltungen als „unvollständige“ Antriebe, nicht nur, weil sie durch zwei statt drei Bewegungsfaktoren (Gewicht/ Raum/ Zeit) bestimmt werden, sondern weil sich ihr Kreis erst durch die konkrete (körperliche) Bewegung schließt.
Auch den unvollständigen Antrieben liegen die beiden Einstellungen des "Erspürens" oder "Ankämpfens" zugrunde (s.o.). Hierbei beziehen sich „wach“ und "träumerisch" auf den Grad der Bewusstheit, „fern“ und „nahe“ auf den Grad der Präsenz und „stabil“ und „mobil“ auf den Grad der Standfestigkeit. Sie lassen sich auch als Erscheinungen von Wahrnehmen, Fühlen und Handeln beschreiben.
Man sieht, auch für Rudolf v. Laban ist Bewegung eine bipolare Erscheinung, nie in einem Begriff zu deuten, weil jeder Ausdruck auch immer sein Gegenteil enthält. Die Laban-Bewegungsanalyse ist im Grunde eine wissenschaftliche Umsetzung des Konzeptes von „YIN & YANG“ und daher ein Schlüssel zum Verständnis des Tai Chi Chuan.
2. Die Bewegungsfaktoren in den Tai Chi-Klassikern
Im Folgenden sollen daher wichtige Aussagen der Tai Chi-Klassiker nach den Kriterien der Laban- Bewegungsanalyse geordnet werden. Ein erster Schritt, östliche und westliche Bewegungstheorie zu verbinden. Die Zitate bleiben hier noch unkommentiert, da ihre bewegungswissenschaftliche Einordnung einer größeren Arbeit vorenthalten bleibt.
I. Bewegungsfaktor Schwerkraft -
mit den Antriebelementen fest und zart
Die Funktion dieses Bewegungsfaktors ist es, den „Widerstand“ zu bestimmen, die damit einhergehende Empfindung bewegt sich zwischen „leicht“ und „schwer“ und entspricht der Bewegungsleichtigkeit.
Aussagen der Tai Chi-Klassiker, die sich auf diesen Faktor beziehen, beschreiben die Bewegung der Faustkunst als getragen, leicht und zart
"In jeder Bewegung soll der ganze Körper leicht und beweglich sein, als wären alle seine Teile [wie Münzen] auf einem Faden aufgereiht." (Chang San-feng, zit. nach Cheng Man-Ch'ing 1988, S. 227)
"Eine Feder kann nicht hinzugefügt werden; eine Fliege kann sich nicht niederlassen." (Wang Tsung-yueh, a.a.O. S. 234)
"Man geht wie eine Katze, man bewegt Energie (chin) wie das Ziehen eines Seidenfadens." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 243)
II. Bewegungsfaktor Raum -
mit den Antriebelementen direkt und flexibel
Die Funktion dieses Bewegungsfaktors ist es, die „Richtung“ zu bestimmen, die damit einhergehende Empfindung bewegt sich zwischen „biegsam“ und fadenförmig“ und entspricht der Bewegungsausbreitung.
Aussagen der Tai Chi-Klassiker, die sich auf diesen Faktor beziehen, beschreiben die Bewegung der Faustkunst als flexibel, sanft, und durchdrungen.
"Die Energie (chin)) wurzelt in den Füßen, fließt durch die Beine, wird von den Hüften kontrolliert und wirkt durch die Finger. Von den Füßen zu den Beinen, von den Beinen zu den Hüften sollte sich alles als Einheit bewegen." (Chang San-feng, a.a.O. S. 227)
"In Ruhe wie ein Gebirge, in Bewegung wie das Strömen eines großen Flusses. Energie (chin) ansammeln gleicht dem Spannen eines Bogens, Energie (chin) abgeben gleicht dem Loslassen des Pfeils." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 240)
"Die Energie (chin) erscheint schlaff, aber sie ist nicht schlaff; sie erscheint entfaltet, aber sie ist noch nicht entfaltet. Auch wenn die Energie (chin) bricht, ist die "innere Aufmerksamkeit" (I) ungebrochen." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 242)
III. Bewegungsfaktor Fluss -
mit den Antriebselementen frei und gebunden
Die Funktion dieses Bewegungsfaktors ist es, die „Kontrolle“ zu bestimmen, die damit einhergehende Empfindung bewegt sich zwischen „flüssig“ und „pausierend“ und entspricht der Bewegungsflüssigkeit.
Aussagen der Tai Chi-Klassiker, die sich auf diesen Faktor beziehen, beschreiben die Bewegung der Faustkunst als gelöst, verbunden und ununterbrochen.
"Der ganze Körper soll Teil für Teil wie auf einem Faden aufgereiht sein. Veranlasse nicht die geringste Unterbrechung." (Chang San-feng, a.a.O. S. 228)
"Wird Ch'i (durch den ganzen Körper hindurch) gelenkt, so gleicht dies den "neun unebenmäßigen Perlen", und es kommt zu keiner Behinderung." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 240)
"Das Bewußtsein (hsin) lenkt das Ch'i und veranlaßt es zu sinken; dann kann es sich sammeln und in die Knochen eindringen. Das Ch'i bewegt den Körper und veranlaßt ihn durchlässig zu sein; dann kann er dem Bewußtsein (hsin) mühelos folgen." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 239)
IV. Bewegungsfaktor Zeit -
mit den Antriebelementen plötzlich und allmählich
Die Funktion dieses Bewegungsfaktors ist es, die „Geschwindigkeit“ zu bestimmen, die damit einhergehende Empfindung bewegt sich zwischen „lang“ und „kurz“ und entspricht der Bewegungsdauer.
Aussagen der Tai Chi-Klassiker, die sich auf diesen Faktor beziehen, beschreiben die Bewegung der Faustkunst als ausgewogen, gewandt und lebendig.
"Zuerst trachtet man nach Öffnung und Ausbreitung, später trachtet man nach Geschlossenheit und Kompaktheit; dann kann man zu äußerster Feinheit und Unergründlichkeit gelangen." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 241 f.)
"Wird die linke Seite schwer, so soll sie leer werden; wird die rechte Seite schwer, so soll sie tief werden. Sieht man [zu dir] nach oben, so sei unerreichbar hoch; sieht man [zu dir] nach unten, so sei unerreichbar tief. Je näher etwas vorrückt, desto weiter sei entfernt; je weiter sich etwas zurückzieht, desto näher dränge heran." (Wang Tsung-yueh, a.a.O. S. 234)
"Es wird auch gesagt: Bewegt sich der andere nicht, so bewege ich mich auch nicht; bewegt sich der andere geringfügig, so bewege ich mich zuerst." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 242)
V. Innere Haltung mit zwei Bewegungsfaktoren -
von Gewicht, Raum und Zeit
In der Haltung eines Menschen verbindet sich seine körperliche Standhaftigkeit mit seiner seelischen Präsenz und geistigen Bewusstheit. Eine Haltung hat man nicht, sondern entsteht in jedem Augenblick neu und will gelebt sein. Sie kann stabil oder mobil, fern oder nahe, wach oder träumerisch sein.
Aussagen der Tai Chi-Klassiker, die sich auf die (innere) Haltung beziehen, beschreiben die Bewegung der Faustkunst als gesammelt, achtsam und einheitlich.
"Ch'i soll [wie ein Feuer] entfacht werden. Der Geist (shen) soll im Innern angesammelt sein." (Chang San-feng, a.a.O. S. 227)
"Die äußere Erscheinung gleicht einem Raubvogel im Moment des Beuteschlagens; der Geist (shen) ähnelt einer Katze während sie eine Maus fängt." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 240)
"In der Bewegung gibt es nichts, was sich nicht bewegt; in Ruhe gibt es nichts, was nicht ruht." (Wu Yu-hsing, a.a.O. S. 242)
3. Die Einheitlichkeit der Bewegungsantriebe
Wenn man die Analogie mit den fünf Elementen zugrunde legt, wird deutlich, dass die einzelnen Prinzipien nicht voneinander zu trennen sind. Eines verweist auf das Andere und findet im Gegenteil seine Ergänzung.
Ohne Sanftheit keine Leichtigkeit; ohne Leichtigkeit keine Achtsamkeit; ohne Achtsamkeit keine Gewandtheit; ohne Gewandtheit keine Verbundenheit und ohne Verbundheit keine Sanftheit.
Jeder der fünf Begriffspaare hat einen YIN- und einen YANG-Aspekt. Man könnte sie auch Selbst- und Fremdbezug nennen. Auf diese Weise entspricht YANG dem Öffnen und der Funktion im Außen und YIN dem Schließen und der Funktion im Innern. Das Äußere leitet das Innere und das Innere leitet das Äußere. Dies gilt für Bewegungsabläufe (des Körpers) allein, mit Gegenständen (Waffen) oder mit Anderen (Angreifer, Partner).
Die in der Grafik skizzierten Prinzipien erinnern hinsichtlich der inneren Haltung an den Text "Geheimnis der Fünf Wörter" von Li I-Yu:
Ob die fünf Prinzipien/Begriffe eine Analogie mit den Fünf Elementen (Wandlungsphasen) tatsächlich zulassen, soll hier offen bleiben. Jedenfalls wird die Theorie von YIN & YANG in den Tai Chi-Klassikern im Zusammenhang mit den Acht Eingängen (Trigrammen) und Fünf Schritten (Elementen) dargelegt. So heißt es bei Chang San-feng:
"Das Lange Boxen ist wie das Strömen eines großen Flusses; es fließt ohne Unterbrechung. Die Dreizehn Stellungen sind: Abwehren, Zurückrollen, Drücken, Stoßen, Ziehen, Spalten, Stoß mit Ellbogen, Schulterstoß - sie entsprechen den Acht Trigrammen (Pa Kua) -, Vorwärtsgehen, Zurückziehen, Nach links sehen, Nach rechts blicken, Gleichgewicht in der Mitte - sie entsprechen den Fünf Elementen (Wu Hsing)." (a.a.O. S. 228)
* Quellennachweis:
zit. nach Cheng Man-Ch'ing 1988, S. 233. Alle weiteren Textauszüge von Chang San-feng (Abhandlung über Tai Chi Chuan), Wang Tsung-yueh (Klassische Schrift über Tai Chi Chuan) und Wu Yu-hsing (Erläuterungen zur Ausführung der Dreizehn Stellungen) sind zitiert nach: Cheng Man-Ch'ing: Ausgewählte Schriften zu T'ai Chi Ch'uan, übersetzt von Jürgen Licht, Sphinx Verlag 1988, S. 227 ff.
Anmerkung: Entgegen der heute gebräuchlichen Pinyin-Umschrift zur phonetischen Wiedergabe des Chinesischen wird in der Übersetzung der Klassiker die Wade-Giles-Umschrift verwendet.
** Alle in Anführungszeichen gesetzten Begriffe beziehen sich auf die Nomenklatur von Rudolf v. Laban.