Wu-Tai Chi geht auf Quanyou (1834-1902), einem Kommandanten der kaiserlichen Leibgarde am chinesischen Kaiserhof zurück. Er lernte Tai Chi Chuan bei Yang Luchan (1799-1872) und dessen zweiten Sohn Yang Banhou (1837-1890).

 

Sein bedeutendster Schüler und Sohn Wu Jianquan (1870 – 1942) unterrichtete neben Yang Chengfu, Yang Shaohao und Sun Lutang am "Institute for Athletic Investigation" im Peking der frühen chinesischen Republik (nach 1912). Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass Tai Chi Chuan zu einem öffentlichen Kulturgut wurde und sich in ganz China verbreitete.

  

Wu Jianquan entwickelte im Zuge dieser Öffnung eine auf der schnellen, mehr kampfbetonten Tai Chi-Form basierende langsame Handform. Sie ist gegenüber der alten Form einfacher in der Struktur, kompakter in der Bewegung und verbundener im Verlauf. Tai Chi Chuan wurde auf diese Weise zu einem „Breitensport“, dessen Formen, Konzepte und praktische Anwendungen für jeden ernsthaft Interessierten, gleich welchen Alters erlernbar wurden.

  

Nach seinem Umzug nach Shanghai gründete Wu Jianquan im Jahre 1935 die „Jianquan Tai Chi Chuan Association“ und legte damit den Grundstein für die weltweite Verbreitung des Wu-Stils. Nach Europa kam der Wu-Stil durch das Engagement seiner Tochter Wu Yinghua (1907-1996), seines Schwiegersohnes Ma Yuehliang (1901-1998) und deren Sohn Ma Jiangbao* (1941-2016), die 1986 einer Einladung von Hin Chung Got, einem Schüler von Ma Yuehliang, folgten.

  

Ma Yuehliang beschreibt den Wu- Stil als "von den Grundstellungen her kompakt, natürlich und locker, langsam und ununterbrochen, lebendig, fließend, weich und ausgeglichen". Außer dem Tempo gilt das gleiche für die alte (schnelle) Handform. In den Waffentechniken, von denen im Wu-Stil die Formen mit Säbel, Speer (Lanze) und Schwert geübt werden, finden wir diese Eigenschaften im Umgang mit der jeweiligen Waffe wieder.

 

Besonders auffallend im Wu-Stil ist die innere Verbundenheit zwischen den Bewegungen von Hand, Taille und Fuß. Die Wirbelgelenke stützen die Haltung, die Becken- und Schultergelenke bestimmen die Richtung, die Knie- und Ellbogengelenke bedingen die Reichweite, die Sprung- und Handgelenke sorgen für die Druckabsorption, die Zehen- und Fingergelenke erlauben die subtile Manipulation und Artikulation jeder Bewegung. 

 

Die Bewegung eines Gelenkes löst auf diese Weise einen durchdringenden Impuls durch alle Gelenke aus. Die Gelenke bewegen sich in der Zeitlupenauflösung eines nach dem anderen und fließen doch als Gesamtbewegung in einem Punkt zusammen. „Eins nach dem Anderen und Alles zusammen“ lautet daher eine der wichtigsten Merksätze des Wu-Stils.

  

Die gegenseitige Durchdringung der Gelenke, Verwurzelung bei gleichzeitiger Leichtigkeit und Zentrierung bei umfassender Beweglichkeit schaffen den unverwechselbaren Charakter des Wu-Stils, der nicht nur in den Soloformen mit und ohne Waffe, sondern auch in den Partnerübungen (Tui Shou) zum Ausdruck kommt.

 

* Ein Nachruf auf Ma Jiangbao von Shi Meilin

Li Hai Bo, Schüler von Großmeister Ma Hai Long, Shanghai